Am Morgen des 1. Januars 2023 ist nach einer schweren und langwierigen Krankheit im 87. Lebensjahr Juri Lwowitsch Tsoglin verstorben. 

Juri Tsoglin war in Dresden bekannt als einer der aktivsten Mitglieder der Jüdischen Gemeinde und Leiter der gemeinnützlichen Organisation, der KIW-Gesellschaft e.V. (Kultur-, Ingenieur- und Wissenschaftsgesellschaft), die Migranten aus den Republiken der ehemaligen Sowjetunion vereint. Eine außerordentliche Energie und der Scharfsinn von Juri Lwowitsch brachten ihm allseitige Achtung entgegen und machten es möglich, dass er zu einem der prominentesten Bürger der Stadt wurde, die nach der Öffnung der Grenzen der UdSSR infolge der Perestroika (Umgestaltung) hierher umsiedelten.

Juri Lwowitsch ist am 17. Dezember 1936 in der Stadt Makejewka (Makijiwka) des Gebietes Donezk (Ukraine) in der Familie des Ingenieurs Tsoglin Lew Aronowitsch geboren. Er war nicht einmal 5 Jahre alt, als der Krieg begann. Der Vater wurde umgehend an die Front mobilisiert und bald wurde die Heimatstadt den ersten Luftangriffen ausgesetzt. Die Mutter Raja, nachdem sie in aller Eile das Notwendigste gepackt hatte, nahm die 8-jährige Tochter Maja und den Sohn am die Hand und ging mit ihnen 20 Kilometer zu Fuß bis zur Stadt Charzysk, wo sich der nächstgelegene Bahnhof befand.

Als sie und andere Flüchtlinge dort ankamen, waren die Stadt und der Bahnhof schon zerstört. Der lange Menschenzug bewegte sich weiter zu Fuß Richtung Eisenbahnstation Ilowajsk, bis dorthin waren es noch 60 Kilometer nach Osten. Die Familie Tsoglin musste während dieses Marsches Hunger, Gefahren und Entbehrungen erleben. Bei einem der Luftangriffe wurde Jura leicht am Bein verletzt und verlor den Anschluss an Verwandte. Eine Frau, die auch ein Kind bei sich hatte, verband ihm die Wunde, nahm ihn mit in ihre Kutsche und brachte ihn so nach Ilowajsk. Zum Glück wurde Jura am nächsten Tag von der Mama in Ilowajsk gefunden und Raja gelang es dort mit den Kindern in einen Güterzug einzusteigen. Mit diesem Zug fuhren sie fast einen Monat lang, litten an Kälte und Hunger und kamen endlich Anfang Oktober 1941 in der Stadt Kamensk-Uralski an. Nun verbrachten sie hier all die Jahre der Evakuierung bis zum Kriegsende. 

Der Vater Lew Aronowitsch diente heldenhaft in einer Panzerdivision, wurde mit zahlreichen Orden und Medaillen ausgezeichnet und kam im Rang eines Garde-Oberleutnants bis nach Berlin. Doch damit ging der Militärdienst nicht zu Ende, denn er wurde nach Dresden abkommandiert, um in der Militärkommendantur zu arbeiten. 1946 wurde ihm erlaubt, seine Familie nach Deutschland zu holen. So gelang der 10-jährige Juri Tsoglin zusammen mit seiner Mutter und der älteren Schwester das erste Mal nach Dresden. Vier Jahre lang lernte er hier in einer Schule für die Kinder der sowjetischen Offiziere, sah die Folgen der Bombardierung der Stadt von 1945 und war Zeitzeuge des Beginns deren Schuttbeseitigung und Wiederaufbau. Zusammen mit den anderen sowjetischen Kindern half Juri den Soldaten der Kommendantur, warmes Essen den einheimischen Bürgern zu bringen. 

1950 wurde der Vater demobilisiert und die Familie ging in die Heimat zurück. Juri Lwowitsch war seit jungen Jahren ein wissbegieriger Schüler, nahm aktiv an den sportlichen und gesellschaftlichen Ereignissen teil. Zum Schulabschluss stand sein Traum fest: Kernphysik zu studieren. Doch die stillschweigenden Einschränkungen für Juden, die damals in der UdSSR existierten, verwehrten ihm solch eine Möglichkeit. Darum absolvierte er 1959 die Technische Hochschule Kiew in der Fachrichtung Ingenieur für Wärmeenergetik. 

Während des Hochschulstudiums lernte Juri Lwowitsch seine künftige Frau Natalia Alexandrowna kennen. 1959 wurde ihre Ehe geschlossen und bald darauf bekamen junge Leute den Sohn Dima und dann die Tochter Olja. Die Familie der jungen Fachleute war nach dem Hochschulabschluss beim Bau des Wasserkraftwerks Alma-Ata (heute: Almaty) tätig. 

 Nur der außerordentlichen Zielstrebigkeit von Juri Lwowitsch ist seine Arbeitsstelle am Institut für Kernforschung in Kiew zu verdanken. Hier arbeitete er mit der ihm eigenen Hartnäckigkeit, Energie und Denkkraft erfolgreich bis zur Ausreise zu den ständigen Wohnsitznahmen nach Deutschland, nachdem er eine Doktorarbeit zum Thema kernenergetische Anlagen verteidigt hatte.

Eine Reihe von Entwicklungen, die unter seine Leitung entstanden oder an denen er teilnahm, wurde umgesetzt und zeigte ihre Effektivität in der Praxis. 

Insbesondere ist die Arbeit von Juri Lwowitsch zur Beseitigung der Folgen im AKW Tschernobyl zu würdigen. Gemeinsam mit einer Reihe von anderen Fachleuten für Kernenergietechnik kam er vor Ort am Anfang der Arbeiten zur Beseitigung der Katastrophenfolgen, als weder deren Ausmaß noch die Methoden für deren Bekämpfung unklar waren. Juri Lwowitsch meldete sich freiwillig zur Untersuchung in der Zerstörungszone und erfüllte diese Aufgabe, die mit einem enormen Lebensrisiko für ihn verbunden war. 

1995 sind Juri Lwowitsch Tsoglin, seine Ehefrau Natalia Alexandrowna und ihre zwei Kinder von Kiew nach Deutschland zur ständigen Wohnsitznahme umgezogen. Die Hauptgründe für die Emigration waren die Zunahme des Antisemitismus in der unabhängigen Ukraine und der Zusammenbruch der Wissenschaft und Forschung sowie der wirtschaftlichen Produktion auf dem gesamten Territorium der ehemaligen UdSSR. Juri Lwowitsch schloss sich aktiv an das gesellschaftliche Leben der russischsprachigen Gemeinschaft und an die Jüdische Gemeinde zu Dresden an. 

2003 wurde Juri Lwowitsch in die gemeinnützliche Organisation unter dem Namen die KIW-Gesellschaft e.V. eingeladen. Eben seit diesem Augenblick begann das Leben in dieser Gesellschaft zu sprudeln. Aufgrund seines breit angelegten Wissens nicht nur in der Technik, sondern auch auf den Gebieten weit außerhalb seiner beruflichen Interessen schaffte er, die Tätigkeit des Vereins auf ein neues Niveau zu heben, wobei er auf eine einmalige Art und Weise das Engagement der Fachleute aus den Bereichen Wissenschaft, Technik, Kultur und Kunst aus den Republiken der ehemaligen UdSSR unter der Heranziehung der einheimischen Dresdner vereinte. Dies ermöglichte der KIW-Gesellschaft, bedeutende Erfolge in der Integration der Migranten in das Leben der Stadt und Deutschlands überhaupt zu erzielen. 

Trotz der Krankheit arbeitete Juri Lwowitsch aktiv auch an den letzten Tagen des Lebens in der Position des Vorstandsvorsitzenden der KIW-Gesellschaft e.V. und blieb Mitglied der Versammlung der Repräsentanten der Jüdischen Gemeinde zu Dresden. Er genoss unabänderlich Achtung seitens der Leiter anderer gemeinnütziger Vereine und der Mitarbeiter der Stadt- und Landesverwaltungen sowie der großen Anzahl von russischsprechenden multinationalen Migranten in der Stadt. Es ist ohne Zweifel, dass im großartigen und erfolgreichen Leben von Juri Lwowitsch sein dynamischer, offener und initiatorischer Charakter eine wichtige Rolle spielte, der die Herzen der Menschen stetig an ihn heranzog. 

Bis in die letzte Lebensphase hinein wurde Juri Lwowitsch von seiner Familie unterstützt, von seiner Ehefrau Natalia Alexandrowna, mit der er in der Ehe über 63 Jahre lebte, von der Tochter Olga, vom Sohn Dmitrij und von den Enkeln. 

 Juri Lwowitsch Tsoglin wurde am 4. Januar 2023 auf dem Neuen Jüdischen Friedhof in Dresden beerdigt.

 

Übersetzung von Alla Berndt